Fliegenwerfen im Walzertakt – ein Wurfkurs mit Mel Krieger

Er gilt als Urgestein des Fliegenwerfens. Er weiß mehr darüber, als die meisten anderen und als Lehrer ist er lebende Legende. Er wird mir heute alles zuflüstern. Muss er auch, denn ich weiß nichts. Ich hatte noch nie eine Fliegenrute in der Hand.

Auf einem Reiterhof in Dossow warten zwanzig erwachsene Fliegenwerfer auf groben Holzbänken und erdulden wie in Trance die aufkommende Hitze und den Dunst der Pferdeäpfel. Ein Handy klingelt. Mel Krieger verspäte sich, erfahren wir, er hänge auf der A 24 in einer Drogenkontrolle fest. Es ist der Tag nach der Loveparade. Junge Damen kommen vom Frühritt und bespritzen die Pferde mit kühlem Wasser. Eine Flasche 24er Sonnenmilch wird herumgereicht.

Frisch eingecremt wirkt das Gesicht von Joachim Bujok noch bleicher, noch aristokratischer. Oder ist es die schwere Sonnenbrille, wie sie die Filmstars der 60er Jahre trugen? Er bewegt einen Finger an der Lehne seines elektrischen Rollstuhls und sanft wie ein Rolls Royce schwebt er auf mich zu und mit ihm seine Vergangenheit. Mit 17 hörte er in West-Berlin von Rapfen. Er warf seine Fliegen und fing. Später besuchte er die Urgesteine in Amerika, Lee Wolf, bevor der mit dem Wasserflugzeug abstürzte. Schrieb darüber in Fliegenmagazinen. Gründete „Fario e.V.“ und stieg wieder aus. Jetzt ist er selbst eine Art Urgestein, allerdings aus einem deutlich jüngeren Sediment. Heute einer von Mels Co-Trainern.

Aus der Mitte des Vereins entspringt der Vorsitzende von Fario e.V.: Mario Mücke. So muß ein Fliegenwerfer aussehen. Khakifarbenes Hemd mit vielen Taschen, khakifarbene Shorts mit noch mehr Taschen. Klar und freundlich wie ein Bergbach.. Baut Wehre ab, setzt Fische aus, streut Kies in Flüsse – als Laichbett für Salmoniden. Kann sich auch noch an die Mühsal mit den DDR-Fliegenschnüren erinnern: Nach dem Wurf rollten sie sich auf wie das Kabel zwischen Telefon und Hörer. Besser waren die Naßschnüre aus der Tschechoslowakei. Oder einfach Maurerschnur. Zum Gestein fehlt ihm zwar noch das urige, heute trotzdem: Mels Co-Trainer.

Mel kommt um die Ecke. Ganz unerwartet trägt das Urgestein Poloshirt in unspektakulärem hellblau. Paßt aber zu seinem sportlichen Gang. Hat sofort den Hut auf. Einen schwarzen Anglerhut, ausgebleicht von Bachgeflüster und Mückengesirr. An der Krempe hakt eine braune künstliche Fliege, vielleicht aus den Wäldern Montanas? Oder Japans? Oder Australiens? Mel Krieger war jedenfalls auf allen Kontinenten unterwegs, und durch seine schwarze Sonnenbrille sah er die exotischsten Flüsse glitzern. Jetzt spiegeln sich in den Gläsern zwanzig Vereinsmitglieder von Fario e.V. Mel Krieger schenkt ihnen dieses Lächeln, wie es sich nur erfolgreiche Amerikaner leisten können. Sein Lächeln ist umrahmt von einem weißen Bart, so lange ist er schon erfolgreich. Mel redet, Chris übersetzt ins Schweizer-Deutsch. Auch er ist Mels Co-Trainer. Hat in Berlin im Theater gearbeitet, lebt jetzt in der Schweiz. Beherrscht neben der Fliegenrute diesen brasilianischen Kampfsporttanz, will ihn aber nicht vormachen. Das würde in diesem Rahmen albern wirken. Chris hat das Zeug zum Urgestein. „Wer Anfänger sei?“ lässt Mel fragen.
Angesichts eines Mannes, der sein halbes Leben mit der Fliegenrute verbracht hat, heben alle die Hand, auch die Routiniers.

Ich bin der einzige, der keine eigene Rute hat. Nico reicht mir einen Köcher. Darin vier Fiberglasstäbe. Nico, von Beruf Werbefotograf handelt nebenbei damit. Während ich die vier Teile nach Dicke sortiere und zur Rute zusammenstecke, nimmt Mel die Co-Trainer beiseite und erklärt ihnen seine Vorstellung vom Umgang mit Schülern. Der Wind trägt seine letzten Worte an mein Ohr: „..umarmt und küsst sie!“

Wie Fahrradfahren lernen sei das, übersetzt Chris. Fliegenwerfen könne man zwar sehr schnell intellektuell verstehen, aber der Weg vom Kopf in die Hand sei manchmal weit. Ich hoffe, Mel kennt eine Abkürzung. Er schickt uns alle auf eine Wiese und lässt uns den Rollwurf üben. Die Rute anheben, waaaaarten, ein leichter Hieb nach vorn und die Schnur mit dem neongelben Wollbäuschchen am Ende surrt ein ums andere mal willig ins abgemähte Gras. Der Wind weht vom Dorf her und rauscht in den großen Pappeln. Von der Dosse, dem Hausbach von Fario e.V. – zehn Rollwürfe entfernt – sieht und hört man nichts. Es ist heiß und Fliegenwerfen ganz einfach, bis das Urgestein neben mir steht, und ich mich in der Schnur verheddere. „Warte, bis die Leine hinter der Rute ist“, ranzt Mel mich liebevoll an. Chris muß nicht mal übersetzen. Schon klappt es wieder.

Wie kommt der Knoten in die Schnur ? „Eine unabdingbare Geschichte“, flüstert mir Mario zu. In aller Ruhe fummelt er die Schnur wieder grade. „Angeln lehrt uns Geduld.“ Er korrigiert meinen Rollwurf, indem er mir noch mal zeigt, was Mel mir gezeigt hat. Mein nächster Wurf sitzt, die Leine spannt sich. Mario: „Na wunderbar. Jetzt hängt’s im Gras.“

Dann wird´s schwierig: Der Überkopf-Wurf. Mels erhobener Unterarm mit der Rute pendelt vor und zurück – die Schnur saust in eleganten Schlingen über seinem Kopf – und: butterweich landet sein Wollbäuschchen im Gras. Welch geschmeidiges Timing. 70 Prozent der Kraft komme aus der Rute, erklärt er uns; aber nur, wenn man ihren Schwung zur rechten Zeit bremst. Mel kramt in seiner pädagogischen Trickkiste und gibt uns ein Mantra mit auf die Übungswiese: „Stop…..stop….and the line goes out.“

Ich bekomme Schweißausbrüche. Wenn ich die Rute nach hinten reiße und stoppe, rast das Wattebäuschchen mit Affenzahn auf mich zu und saust knapp an mir vorbei. Mehrmals verliere ich die Nerven und ducke mich. Reiße die Rute wieder nach vorn, mit Peitschenknall durchbricht das Wattebäuschchen hinter mir die Schallmauer. Stop, die Schnur pfeift durch den Äther. Ich merke nicht mal, wie ein Bauer mit dem Heuwender auf die Wiese fährt, soviel Spaß macht es, die Schnur wie ein Lasso in der Luft zu halten. Bis Mel kommt. Er lobt mich wegen meiner Fortschritte, aber eigentlich mache ich alles falsch. Geduldig korrigiert und erklärt er Schwung und Haltung, aber als der Trecker immer kleinere Kreise um uns zieht, greift Mel zur Holzhammermethode: Er packt meinen Arm und ruckt die Fliegenrute auf und nieder, wie beim Holzhacken. „Stell dir vor, das wäre eine Axt. That’s the power!“ ruft er mir durch den Treckerlärm ins Ohr. Zusammen mit dem Urgestein hacke ich ein paar Scheite Luftholz. Der Traktor fährt genau auf uns zu. „Thank you“, brülle ich ihm nach, als Mel und ich auf der Flucht getrennt werden.
Ich übe weiter, versuche umzusetzen, was er mir eben zugeflüstert hat. That’s the power. Die Rute zerhackt durch den Luftraum. „STOP….STOPPP!“ Co-Trainer Chris schüttelt den Kopf. Auch er nimmt meinen Arm mit der Rute. „Denk dir ein Lied aus, irgendeine Melodie!“ Er trällert etwas und zwingt meinen Unterarm in den Rhythmus. Es ist ein Walzer. Immer geschmeidiger tanzt die Schnur durch die Luft, je mehr ich mich führen lasse. „Mach die Augen zu“, befiehlt der Co-Trainer. Ich gehorche. Das Wattebäuschchen pfeift im Rhythmus an meinem Ohr vorbei. Es hat nichts mehr mit Kraft zu tun.

Gleich schnappt er zu, der Maulwurfshügel. Ich muss ihm nur das Wattebäuschchen mundgerecht servieren. „Ah, Zielübungen! Das ist schon positiv“, sagt Joachim. Sein Rollstuhl flüstert auf mich zu.
„Aber stell dir vor, da ist ein Ast drüber, die Forelle sitzt genau drunter, und du musst punktgenau da hin treffen.“ Zum ersten Mal an diesem Tag ist die Rede von Fischen. Praxisbezug muntert mich auf. „…und dann wirfst du 30, 40 mal dahin“, sagt Joachim, „und wenn du endlich triffst, dann hast du die falsche Fliege und die Forelle nimmt sie nicht. Wirst sehen.“ Er lächelt Sein Finger bewegt sich und dirigiert seinen Rollstuhl am Maulwurfshügel vorbei in die Mittagspause.

Ich kenne mich aus in der Gegend, deshalb weiß ich: Zwei, drei Kilometer flussaufwärts, in Wittstock beim Dosseteich, gibt es Bachforellen. Prächtige Burschen. Tiefgekühlt und küchenfertig. Und billig. Aber heute ist Sonntag, der Aldi ist zu. Die Fliegenwerfer fahren ins Dorf und essen Chilli con Carne auf dem Reiterhof. Ich fahre erschöpft nach Hause und setze mich vor eine Dose Tomatenfisch.
Der ganze Nachmittag liegt noch vor mir. Ratschläge, Hitze, Fehlschläge. Aber ich vertraue auf Mel. Er hat sich schließlich vorgenommen, mich lebenslang zu begeistern. „Beim Fliegenwerfen wirst du immer was dazulernen, bis zu dem Tag, an dem du nicht mehr zum Fluss gehen kannst.“, höre ich ihn sagen. Für ihn ist das die große Wahrheit seines Lebens. Dafür tausendmal chapeau!
Aber muß ich das gleich nachmachen? Für Thomas zum Beispiel ist es der ideale Ausgleich zu seinem Büro-Job als Anlageberater. Natur, frische Luft, ab und zu einen Fisch. Ich spiele lieber Fußball. Jagdlust wäre für mich ein Antrieb. Aber den Fliegenwerfern geht es nicht ums Fangen, es geht ihnen um Fairness beim Fischen – sagen sie. Manche feilen sogar die Widerhaken glatt, damit die Fische leichter vom Haken kommen. Also nichts für die Bratpfanne, dafür aber Insektenkunde, Fliegenbinden, Schnüre ölen, Salmonidenprüfung, Arbeitseinsätze, Gewässerpflege…. die leere Fischdose landet im gelben Sack.

„Mehr als 90 Prozent unserer Zeit sind wir am Fluss und fangen nichts, aber das Werfen ist doch der eigentliche Spaß“, beginnt Mel den zweiten Teil des Kurses. Er senkt seine Rutenspitze und zeigt auf mich. „Und du wirst dir morgen eine Rute kaufen!“ Seine Leidenschaft ist hochinfektiös. Wir kurbeln die Schnüre ganz ein und spielen nur mit der erhobenen Rute. Noch in den Zehen sollen wir das Vibrieren der Rutenspitze spüren. Vorausgesetzt, wir machen unser Handgelenk ganz steif. Mel zitiert kinästhetische Studien, lässt uns imaginäre Bälle werfen, erzählt Witze, taucht unter und spielt Forelle, taucht auf und spielt Spiegel: „We all know: Je weiter du wirfst, desto größer der Fisch.“ Peng. Mit Gelächter zerplatzt der Weitwurfehrgeiz. Mel verkauft uns dafür etwas besseres: echtes Feeling. Und er zieht alle Register amerikanischer Motivationskunst. Seit Jahrzehnten denkt er über’s Fliegenwerfen nach und wie man es appetitlich präsentiert: „Now, I tell you a secret!“ Oder: „Jetzt erzähle ich euch etwas ganz wunderbares:“ Bedenkenlos schnappen wir nach jedem Happen, den Mel uns präsentiert.
„Es gibt verschiedene Arten zu lernen“, sagt Mel später. „Manche hören, andere beobachten, manche müssen alles spüren.“
Mel Krieger hat für jeden einen passenden Köder und jeder schnappt danach und zieht neue Weisheiten hinunter in die eigene Tiefe. Selbst die Co-Trainer lernen.

„Nicht `dag‘, sondern `sssssssdung‘!, schärft mir Chris ein. Nach seinem erfolgreichen Walzer vom Vormittag versucht er es wieder mit Klangbeispielen. Er entdeckt noch zuviel Bewegung in meinem Handgelenk. Kurzerhand rollt er meinen Hemdsärmel runter und knöpft mit der Manschette mein Handgelenk am Rutengriff fest. Zwei sparsame Schwünge mit dem Unterarm, die Spitze sirrt, …fast platzt der Manschettenknopf, aber das Wollbäuschchen landet weich an der langgestreckten Leine. „Perfect. You’ve got it! Aber mach das ab, wenn Mel guckt.“

Wir liegen abgeschlafft im Gras. Die Pappeln werfen ihren Schatten bis zur Dosse, zehn Rollwürfe weit. Mel ist der einzige der noch steht. Das ist jetzt keine pädagogische Trickkiste, das sind die Ergebnisse seines Ehrgeizes. Er zeigt uns Würfe, Weisheiten, Tricks. Ein Zittern mit der Rutenspitze und die Schnur fällt in Schlangenlinien ins Gras. Mit leichter Hand serviert er uns einen mehrgängigen Nachtisch. Linksbögen, Rechtsbögen, Weitwurf durch leichter Verzögerung, Kreiswurf. Zu schnell, zuviel, um mir alles einzuprägen. Ich bin satt, aber die Hungrigen schnappen weiter nach jedem Körnchen Wahrheit vom Urgestein.

Nachtrag: Zu unrecht unerwähnt blieb bisher Dr. Peer Doering-Arjes, der nicht nur Mel Kriegers Buch „Die Quintessenz des Fliegenwerfens“ ins Deutsche übertragen, sondern Mel Krieger selbst für diesen Kurs nach Deutschland geholt hat. Zudem übersetzte er für uns weite Teile von Mels Ausführungen.

Nachtrag zwei: Obwohl ich noch keine besorgt haben, halte ich manchmal – ganz unvermittelt – eine Fliegenrute in der Hand. Und ebenso unvermittelt höre ich Mels Walzer-Worte in meinem Ohr. „Stop….stop….and the line goes out!“

Text von Gerhard Richter 

Dieser Text erschien zuerst im „Der Fliegenfischer“ Heft 170, Seite 38. Vielen Dank an Herrn Schück für die Möglichkeit, die Erfahrungen von Gerhard Richter hier ebenfalls zu veröffentlichen.